Blühende Landschaften

Helmut Kohl prophezeite am 1. Juli 1990 in seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: “Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.”

In den folgenden Jahren wiederholte Kohl diese Prophezeiung mehrfach.

1990: “Ich sage Ihnen, meine lieben Mitbürger, voraus, dass die neuen Bundesländer in drei, vier Jahren, oder vielleicht fünf Jahren, aber bestimmt nicht später, blühende Landschaften sein werden.”

1990: “Wir werden vermutlich in einem Jahr die Talsohle durchschritten haben. In vier, fünf Jahren wird es dort in den neuen Bundesländern blühende Landschaften geben.”

1991: “Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländern blühende Landschaften gestalten werden.”

1992: “… bald schon blühende Landschaften, in denen zu leben und zu arbeiten lohnt…”

1994: “Die blühenden Landschaften sind doch unterwegs, vier, fünf Jahre wird es noch dauern.”

1994: “Die blühenden Landschaften sind doch unterwegs, nur der Faktor Zeit hat sich verschoben.”

1994: “Ich bleibe bei den blühenden Landschaften, ich habe früher vier bis fünf Jahre gesagt, jetzt verdoppele ich die Zahl.”

1998 tauchten die blühenden Landschaften noch einmal im Bundestagswahlkampf auf. Die CDU verwendete den Begriff auf ihren Wahlplakaten und warb darauf u.a. mit sanierten und restaurierten Gebäuden aus den neuen Bundesländern.

Habe ich Kohl vielleicht falsch verstanden? Ging es ihm nur um die Sanierung maroder Immobilien und Straßen in der ehemaligen DDR? Wartet Helmut Kohl heute immer noch auf die blühenden Landschaften, “in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt”?

Viele Menschen in den neuen Bundesländern warten nicht mehr.

Die Aussichten in unserem Landkreis sind schlecht. Nordsachsen verliert pro Jahr etwa 1 % seiner Einwohner – nicht durch den demografischen Wandel, sondern durch Abwanderung. Besonders schmerzlich ist dabei die Abwanderung qualifizierter junger Menschen.

Der Landkreis ist wirtschaftlich schwach. Neuansiedlungen von größeren Unternehmen in unserer Region sind eher selten. Die von Politik und Wirtschaft angestrebte Steigerung der Produktivität wird in hochindustrialisierten Ländern, wie in Deutschland, durch Industrialisierung, also Spezialisierung, Mechanisierung, Automatisierung und Rationalisierung erzielt. Die Arbeitsproduktivität hat sich in Deutschland dadurch in den letzten 50 Jahren mehr als vervierfacht. Maschinenarbeit ersetzt Menschenarbeit. Durch die voranschreitende Industrialisierung sinkt der Anteil menschlicher Arbeit. In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse gestiegen, jedoch ist die Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen in Vollzeit mit mindestens 21 Arbeitsstunden pro Woche um über 5,0 Mio. Vollzeitstellen gesunken. Die Gewinne des technischen Fortschritts werden privatisiert. Maschinen zahlen keine Einkommensteuer, konsumieren nichts und gründen keine Firmen. Dem Landkreis fehlen die Einnahmen. Nordsachsen ist mit über 100 Mio. Euro verschuldet. In den kommenden Jahren wird sich die Verschuldung des Landkreises rapide erhöhen. Der Fehlbetrag wird auf rund 20 Mio. Euro pro Jahr geschätzt. Das wird der Landkreis auch mit Steuererhöhungen niemals wieder tilgen können.

Wo sind die blühenden Landschaften? In den Karten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Gesellschaft für Konsumforschung sind heute noch die Grenzen der ehemaligen DDR erkennbar.

Armutsatlas GfK-Kaufkraftindex DDR

Die Zukunftsaussichten für unseren Landkreis sind nicht gut. Im Prognos-Zukunftsatlas 2013 finden wir Nordsachsen auf Platz 388.

Den neuen Bundesländern fehlen regionale Wirtschaftskreisläufe. Die ehemals vorhandenen Strukturen sind mit der Wiedervereinigung zusammengebrochen. Die meisten Menschen in den neuen Bundesländern decken ihren täglichen Bedarf mit den Dingen aus anderen Regionen bzw. Ländern. Die Kaufkraft unserer Region fließt über diese Waren und Dienstleistungen aus anderen Regionen und Ländern über die einzelnen Glieder immer länger werdender Wertschöpfungsketten ab. Der Abstand zwischen Produktion und Konsum wird immer größer. Zusätzlich fließt die Kaufkraft durch Interneteinkäufe und Einkaufstourismus aus der Region ab.

Was kann man tun? Kann man überhaupt etwas tun?

Die wichtigste und greifbarste Aufgabe, der wir uns stellen können, ist der Aufbau regionaler Wirtschaftkreisläufe. Die Kaufkraft im Landkreis ist gering. Mit 81,3 Prozent des Bundesdurchschnitts befindet sich Nordsachsen im Ranking der 402 Landkreise auf Platz 372. Es hilft uns nicht, hier neidvoll auf andere Regionen zu blicken.

Wesentlich interessanter sind Informationen über die Kaufkraftbindungsquote, denn aus ihr kann abgeleitet werden, ob die regional vorhandene Kaufkraft lokal genutzt wird oder abfließt. Vor allem im ländlichen Raum liegt die Kaufkraftbindungsquote in Deutschland teilweise unter 25 Prozent. In Nordsachsen liegt sie bei ca. 45 Prozent. Mit jedem Prozent zurückgewonnener Kaufkraftbindung stärken wir unseren Landkreis. Neben den vielen kommunalen Bemühungen, die Infrastruktur zu erhalten bzw. auszubauen und die vorhandenen wirtschaftlichen Potentiale zu fördern, um Menschen und Unternehmen in der Region zu halten und zu gewinnen, kann also jeder Einzelne mit seinem Kaufverhalten zur Stärkung der Region beitragen.

Holger Reinboth, Vorsitzender vom “Verein zur Bewahrung und Förderung des ländlichen Raumes Ostelbien e.V.”, beschreibt diesen Gedanken einer positiven regionalen Identität in einem Interview mit der Torgauer Zeitung mit den Worten “… dass die Region ihr wunderbares Potenzial begreift und auch von außen als erfrischend wahrgenommen wird – trotz der vielen Probleme, die wir zweifellos haben”.

Quellen:
Fünf Jahre sind genug! – Neue DDR-Witze, Ernst Röhl, Eulenspiegel-Verlag
Arbeitswende, Prof. Günther Moewes, pad-Verlag
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Armutsquoten 2007
GfK GeoMarketing GmbH www.gfk.com/geomarketing-de
GfK GeoMarketing GmbH GfK Kaufkraftindex 2014
Prognos Zukunftsatlas 2013
Torgauer Zeitung 2.2.2013 Geringe Kaufkraft in Nordsachsen
Torgauer Zeitung 21.12.2013 Ostelbiens Leckerschmecker
Wikipedia Blühende Landschaften
Wikipedia Kaufkraft (Konsum)
Wikipedia Kaufkraftbindungsquote

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