Kurt-Tucholsky-Gedicht zur Finanzkrise?

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.
Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen – echt famos!
Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.
Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.
Trifft’s hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!!
Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.
Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.
Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und – das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!
Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.
Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.

2008 verbreitete sich dieses “Kurt-Tucholsky-Gedicht aus dem Jahr 1930″ rasant im Internet.

Kurt Tucholsky 1928 in Paris

Kurt Tucholsky 1928 in Paris
© Sonja Thomassen – Wikipedia, Lizenz CC-BY-SA

Angesichts dieser Zeilen mussten die Leser Kurt Tucholsky neben der dichterischen Gabe eine fast schon prophetische Gabe zugestehen.

Doch die Sache hat einen Haken: Kurt Tucholsky hat dieses Gedicht nicht 1930 geschrieben. Er hat es überhaupt nicht geschrieben.

Es stammt vielmehr aus dem Jahr 2008 und aus der Feder des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Richard Kerschhofer.

Sicher hätte Kurt Tucholsky seine wahre Freude an diesem Gedicht gehabt.

Quelle:
Sudelblog: Die Verbreitung einer Gedicht-Legende

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